Kultur

“Der Kirschgarten“ im Staatstheater Kassel

“Wieso redet ihr nicht miteinander?“


(Quelle: N. Klinger)
GDN - Eine ungewöhnliche Inszenierung des Klassikers “Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow wird derzeit den Gästen im Staatstheater Kassel geboten. Die Publikumsreaktionen auf dieses Wagnis sind gemischt.
Eva Maria Sommersberg
Quelle: N. Klinger
Ein altehrwürdiges russisches Landgut mit einem Garten voller alter Kirschbäume, die in prächtiger Blüte stehen. Als dessen Besitzerin Ranewskaja aus dem fernen Paris an diesen traumhaften Ort ihrer Kindheit zurückkehrt, ist die Wiedersehensfreude groß. Doch der Schein trügt. Auch wenn das Kinderzimmer, in dem sich alle zur Begrüßung zusammenfinden, ein Mädchentraum in Rosa ist, scheint in Wahrheit der Traum doch längst ausgeträumt. Das Gut ist derart verschuldet, dass die Zwangsversteigerung unausweichlich näher rückt.
1903 hat Tschechow den “Kirschgarten“ verfasst. Seitdem wird dieses letzte Bühnenwerk des russischen Dramatikers nahezu ununterbrochen auf den Theaterbühnen inszeniert. Ein regelrechter Evergreen, an dem offenbar jede Generation etwas für sich zu entdecken scheint. In dem Stück geht es um Veränderungen, um Zeitenwechsel und den Anpassungsschwierigkeiten der Menschen, die an ihren lieb gewordenen Illusionen festhalten möchten.
Die Gutsherrin Ranewskaja verschließt sich sämtlichen pragmatischen Lösungsideen, mit denen sie dem drohenden Ruin entkommen könnte. Das klingt tragisch und es ist tragisch. Doch Tschechow selbst hat sein Stück als Komödie, stellenweise sogar als Farce, gesehen. “Wandelbar ist alles auf der Welt, und komisch ist diese Wandelbarkeit! Ein weites Feld für die Humoristik!“, wie er selbst einmal schrieb.
Caroline Dietrich und Sabrina Ceesay
Quelle: N. Klinger
Einzig Lopachin, ein neureicher Geschäftsmann, scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Er äußert realistische Vorschläge, deren Umsetzung die Zwangsversteigerung durchaus abwenden könnte. Der unprofitable Garten solle abgeholzt und das Land stattdessen zur Errichtung von Sommerhäusern für Städter genutzt werden. Doch die Besitzerin und ihre Familie weisen derartige Ideen entrüstet zurück. Statt endlich zu handeln, vergnügen sie sich, mit geradezu provozierender Langsamkeit, bei einem idyllischen Grillnachmittag.
Als Tschechow das Stück vor mehr als 100 Jahren verfasst hat, mag der Kirschgarten, der keinen Ertrag mehr erbringt, den russischen Adel symbolisiert haben, der für die Gesellschaft keinerlei Nutzen mehr aufwies. Doch die Geschichte scheint auch in unsere heutige Zeit zu passen, in der die Angst vor Verlust allgegenwärtig ist und in der manch einer instinktiv spürt, dass Veränderungen geschehen müssen und geschehen werden. Doch auf eine gesellschaftspolitische Verengung verzichtet Patrick Schlösser, der den “Kirschgarten“ in Kassel inszeniert hat. Auch vermeidet er eine allzu melancholische Inszenierung, die durchaus nahe gelegen hätte.
Quelle: N. Klinger
Als Tschechow 1904 die Uraufführung erlebte, beklagte er, das Stück sei zu tragisch ausgerichtet worden. Er habe es viel komischer gemeint. Schlösser nimmt Tschechow beim Wort, bringt mit dem “Kirschgarten“ eine Komödie auf die Bühne und geht damit durchaus ein Risiko ein, denn seine Inszenierung entspricht nicht den Erwartungen. Die Komik der einzelnen Figuren, die Realitäten nicht wahrhaben wollen, die den Wandel verschlafen, die sich gegenseitig beruhigen, statt die Zukunft selbst zu gestalten, wird in den Mittelpunkt gestellt. Das Augenmerk liegt dabei ganz besonders auf deren fortwährendem “aneinander vorbeireden“ und den komödiantischen Möglichkeiten, die hierin liegen.
"Wieso redet ihr nicht miteinander?"
Quelle: N. Klinger
“Wieso redet ihr nicht miteinander?“, fragt Ranewskajas Tochter Anja fast beiläufig im ersten Akt, ihre Stiefschwester. Was hier als persönliche Beziehungsberatung in Liebesangelegenheiten gemeint war, möchte man den Akteuren auf der Bühne wiederholt zurufen, denn diese kommunizieren nicht wirklich miteinander. Die Protagonisten reden zwar reichlich, aber im Grunde halten sie Monologe und führen keine Dialoge. Konsequenterweise blicken sich die Redner auch oftmals nicht an, sondern sprechen, vom Gegenüber abgewendet, in das Publikum. Diesen Inszenierungskniff kann man mögen oder auch nicht. Er scheint zwar konsequent, aber auch ein wenig überstrapaziert zu sein.
Christoph Förster
Quelle: N. Klinger
Für die Schauspieler bedeutet der gewählte Weg der Inszenierung eine besondere Herausforderung, da sie das ohnehin schwierige Komödiengenre bedienen müssen, ohne dabei die Tragik der Figuren gänzlich zu verlieren. Dieser Spagat gelingt in unterschiedlicher Qualität. Herauszuheben ist hier sicherlich Thomas Sprekelsen, der die komische Verwirrtheit und die Melancholie, die seiner Figur innewohnt, wunderbar zu vereinen versteht. Schön auch mit anzusehen, wie es Sabrina Ceesay und Christoph Förster, zwei jungen Schauspielern, die noch nicht lange am Staatstheater Kassel engagiert sind, gelingt, ihren vergleichsweise “kleinen Rollen“ ein ganz eigenes Profil zu verleihen. Zwei großartige Bereicherungen eines ohnehin beachtlichen Ensembles.
Christoph Förster und Thomas Sprekelsen
Quelle: N. Klinger
Der Tag der Zwangsversteigerung, an dem sämtliche Illusionen endgültig zerplatzen, naht unausweichlich. Schließlich ersteigert Lopachin den Kirschgarten samt Gutshaus und während die ersten unheilvollen Axthiebe, die das Schicksal der alten Kirschbäume besiegeln, bereits zu hören sind, nimmt die Familie Abschied und muss ausziehen. Lopachin hat als Einziger rational und lösungsorientiert gehandelt. Er scheute die Veränderung nicht, zumal sie ihm zu Besitz verholfen hat. Er hat es geschafft und so steht er am Ende ganz oben auf einer Stehleiter am vorderen Bühnenrand. Doch wie geht es von dort aus weiter? Lopachin scheint verwirrt, wie eh und je, und vielleicht ahnt er bereits, dass ihm die Vertreibung seiner Illusionen noch bevorsteht.
Patrick Schlössers Inszenierung ist mutig und die dahinterstehende Idee interessant. Ob das Zusammenspiel von Komik und Tragik funktioniert und vor allem, ob durch die Herangehensweise neue Aspekte in Tschechows Geschichte aufgedeckt werden können, sollte jeder für sich selbst entscheiden. Ein Großteil des Publikums reagierte eher ratlos und verhalten auf die Produktion. Wer Tschechow einmal etwas anders erleben möchte und dabei vor der möglichen Nichterfüllung von Erwartungen nicht zurückschreckt, erhält an der Kasse des Staatstheaters Kassel (Tel.: 0561/1094-222) oder online unter www.staatstheater-kassel.de Karten für kommende Aufführungen.

weitere Informationen: https://www.staatstheater-kassel.de

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