Kultur

Tommy (The Who) am Staatstheater Kassel

Die Suche nach Befreiung


(Quelle: N.Klinger)
(Quelle: N.Klinger)
GDN - Am vergangenen Freitag feierte “The Who´s Tommy“ Premiere am Staatstheater Kassel. Trotz einer ensembleübergreifenden Produktion und einer ausgezeichneten Band, kann das Resultat nicht vollauf überzeugen. Spaß beim Zuhören und Zuschauen hatte das Publikum dennoch.
“See Me, Feel Me, Touch Me, Heal Me“ hallte es am späten Abend des 17.August 1969 über das weite Festivalgelände in Woodstock. Die Band The Who sah sich “einem wogenden Meer junger Menschen“ gegenüber, “die plötzlich begriffen, dass TOMMY Musik war, die unbewusst für genau diese Art von Festival, für diesen speziellen Moment, für SIE geschrieben wurde“, erinnert sich Komponist und Gitarrist Pete Townshend.
Woodstock - das vielleicht symbolträchtigste und in der Rückschau auch idealisierteste Konzertereignis der Rockgeschichte, in dem der Geist der Rebellion und der Freiheit zu kulminieren schien. Kurz zuvor hatten The Who ihr Album “Tommy“ veröffentlicht, mit dem Pete Townshend das Gerüst von aneinandergereihten, allenfalls durch eine gewisse Grundhaltung miteinander verbundener, Songs durchbrechen wollte. Ein neues Genre war geboren: die Rock-Oper.
Agnes Mann & Peter Elter
Quelle: N.Klinger
The Who erzählen auf ihrem Doppelalbum die Geschichte des Jungen Tommy, der zufällig mit ansieht, wie sein aus dem Krieg heimgekehrter Vater den Liebhaber seiner Mutter erschlägt. Ein traumatisches Erlebnis, auf das der Junge mit Rückzug in die Isolation reagiert. Tommy wird taub, stumm und blind. Obskure Heilversuche erzielen nicht den gewünschten Erfolg, sondern verstören den Heranwachsenden noch mehr. Doch Tommy besitzt ein außergewöhnliches Talent, das ihn zum Weltmeister am Flipperautomat aufsteigen lässt und ihm eine Anhängerschar beschert, die ihn messiasgleich verehrt. Doch das ist nicht die Identität, die sich Tommy wünscht. Tommy sucht nach Befreiung und nach der eigenen, seiner wahren, Identität.
Es ist eine eigenwillige, wüste Geschichte mit der Komponist und Gitarrist Pete Townshend, beeinflusst von den Gedanken des indischen Gurus Meher Baba, das Durchlaufen verschiedner Bewusstseinsstufen bis hin zu Erleuchtung beschreiben wollte. Das überaus weltliche Motiv des Flipperns, hatte er erst sehr spät in das Konzept integriert und dieses in erster Linie, weil ein damaliger Kritiker bekanntermaßen ein großer Flipper-Fan war und die sich in Geldnöten befindliche Band, indem sie das Spiel thematisierte, von ihm eine positive Rezension erhoffte.
Wenn nun fast 50 Jahre nach dem legendären Auftritt von “The Who“ beim Woodstock-Festival die Gänsehaut hervorrufenden Zeilen “See Me, Feel Me, Touch Me, Heal Me“ durch das Kasseler Opernhaus erklingen, vermögen diese leider nicht die ganz großen Emotionen zu erzeugen, doch vermutlich wäre dies auch zu viel erwartet. Die Darsteller um Peter Elter (Tommy) sind eben nicht Roger Daltrey, Sänger von the Who, und auch nicht Elton John oder Tina Turner, die in der Filmversion von “Tommy“ einige Songs interpretiert haben und somit fehlt dem Abend in Kassel eines ganz besonders: eine starke, mitreißende, einnehmende Stimme.
Peter Elter (Tommy)
Quelle: N.Klinger
Dieser Umstand ist jedoch nicht den Darstellern anzulasten. Sie sind Schauspieler und keine Rocksänger und vielen von ihnen, allen voran Peter Elter, gelingt es sich im Verlaufe des Abends, vermutlich mit abnehmender Anspannung, darstellerisch und vor allem gesanglich zu steigern. Aus dem Ensemble hervorzuheben ist Aljoscha Langel, der musikalisch wie auch schauspielerisch zu überzeugen weiß und der zunehmend beweist, dass ihm solch kauzige, skurril-ironische Figuren, wie die des fiesen Onkels, ausgesprochen gut liegen.
Quelle: N.Klinger
Erneut zeigt sich, wie bereits bei so vielen vergangenen, personell aufwendigen Produktionen am Kasseler Staatstheater (z. B. “Cabaret“ oder “Black Rider“), dass die Beteiligung des Tanzensembles stets eine große Bereicherung ist. Die mitwirkenden Tänzerinnen und Tänzer sorgen für die optischen Highlights des Abends und ihnen gelingt es, die Freude an der Musik und an der Bewegung auszudrücken und damit auch das Publikum zu animieren.
Quelle: N.Klinger
Doch im Zentrum einer Rockoper steht die Musik und was die Band, um den musikalischen Leiter und Gitarristen Thorsten Drücker, bietet, ist exzellent. Die Zuhörer erleben dabei keine Imitation von The Who - wer sollte auch den verrückt-genialen Schlagzeuger Keith Moon ersetzen? -, sondern eine zeitgemäße Interpretation der Songs, bei denen die Musiker vom harschen, druckvollen Rocksound über spannungsreiche, groovende Passagen zu dramatisch-theatralischen Klängen wechseln und am Ende des Abends zurecht großen Applaus ernten.
Regisseur Patrick Schlösser, von 2011 bis zur vergangenen Spielzeit Oberspielleiter am Kasseler Staatstheater, inszeniert “Tommy“ mit nicht zu übertriebenem psychologischen Tiefgang. Die Zuschauer erleben einen jungen Mann, der sich aus Zwängen befreit und seinen Weg des Erwachsenwerdens sucht. Patrick Schlösser zeigt dieses in einzelnen, teils bunten Bildern, statt krampfhaft eine durchgängig, logisch nachvollziehbare Entwicklungsgeschichte zu erzählen.
Die von Ulrike Obermüller entwickelte Bühne besteht aus Laufstegen, die kreuzförmig durch den Zuschauerraum verlaufen. Eine derartige Bühnenkonstruktion bringt den Nachteil mit sich, dass nicht von jedem Platz aus, zu jeder Zeit, das Gesamtgeschehen wahrzunehmen ist, bringt dafür jedoch, da keine wirkliche Abgrenzung von Bühne und Zuschauerraum besteht, die Darsteller sehr nah an das Publikum heran. Der gesamte Theatersaal wird zur Bühne und die Zuschauer können müheloser in das Spiel einbezogen werden, was auch im Laufe des Abends mehrfach geschieht, wobei noch längst nicht alle sich bietenden Möglichkeiten genutzt werden. Hier wäre sicherlich mehr möglich.
In einem der schönsten Momente des Abends schweben überdimensionale, farbig leuchtende Flipperkugeln, die sich die Akteure auf der Bühne gegenseitig zuwerfen, bevor auch das Publikum an dem Spiel beteiligt wird, durch den dunklen Saal. Eine Szene die erstklassig von der spannungsreichen Musik der Band untermalt wird und an deren Ende Gitarrist Thorsten Drücker die Bühne stürmt, um mit einem Gitarrensolo endlich eine ordentliche Portion Rock´n´Roll-Feeling im Schauspielhaus zu entflammen.
Als sich im Sommer 1969 über den Hügeln am Horizont in Woodstock die Morgendämmerung ankündigte, setzte Pete Townshend zu einem langen unkonventionellen, feedbacklastigen Gitarrensolo an, bei dem er seine Gitarre wiederholt durch die Luft wirbelte, auf den Bühnenboden stieß, um sie abschließend, sichtlich erschöpft, in das Publikum zu werfen. Damit fand der Auftritt, der The Who “in den amerikanischen Rockadel erhob“ (Pete Townshend), seinen fulminanten Abschluss.
Mit einem Gitarrensolo, zu dem sich das Ensemble in der Bühnenmitte einfindet, endet auch zunächst der Abend im Kasseler Schauspielhaus. Doch unter Standing Ovations folgen noch zwei Zugaben, bei dem sich alle Beteiligten tanzend auf den Laufstegen versammeln, das Publikum zum Mitmachen animieren und mit den Zuschauern flirten. Das Gefühl kommt auf, nicht nur die Titelfigur hat sich aus ihren Zwängen befreit, sondern auch das Ensemble, von dem der Premierendruck abgefallen ist und das sich nun nicht mehr in die Vorgaben von Regie und Handlung einfügen muss. Derartige Freiheit und mehr Mut zum Durchbrechen von Grenzen hätten der Produktion auch in den vergangenen anderthalb Stunden gutgetan.
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